Das Tarifeinheitsgesetz ist weitgehend mit dem Grundgesetz vereinbar. Nur Auslegung und Handhabung des Gesetzes müssen der in Art. 9 Abs. 3 geschützten Tarifautonomie Rechnung tragen.

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in seinem Urteil vom 11.7.2017 einerseits festgestellt, dass die Regelung zur Verdrängung eines Tarifvertrags im Tarifeinheitsgesetz zwar in die Koalitionsfreiheit aus Art. 9 Abs. 3 GG eingreift. Sie kann nämlich grundrechtsbeeinträchtigende Vorwirkungen entfalten, da die drohende Verdrängung des eigenen Tarifvertrags die Gewerkschaften etwa bei der Gewinnung ihrer Mitglieder schwächen können. Art. 9 Abs. 3 GG gibt dem Gesetzgeber jedoch auch das Recht, das Verhältnis der Tarifvertragsparteien zu regeln und strukturelle Voraussetzungen zu schaffen, um dafür zu sorgen, dass Tarifverhandlungen einen fairen Ausgleich ermöglichen können. Zweck des Tarifeinheitsgesetzes ist es, Anreize für kooperatives Vorgehen der Arbeitnehmerseite in Tarifverhandlungen zu setzen und so Kollisionen zu vermeiden. Es geht nicht darum Streiks grundsätzlich zu verbieten. Das Streikrecht auch der kleineren Gewerkschaften wird durch das Gesetz nicht beeinträchtigt.

Die aus dem Gesetz zwangsläufig folgenden Belastungen für kleinere Gewerkschaften sind nach Auffassung der Mehrheit der Richter andererseits überwiegend zumutbar. Dazu bedarf es einer engen Auslegung der Verdrängungsregel in § 4a Abs. 2 TVG und einer weiten Interpretation des Anspruchs auf Nachzeichnung durch die Arbeitsgerichte. Außerdem können die Tarifvertragsparteien selbst regeln, ob und wie eine Verdrängung überhaupt stattfinden kann, denn die Regel ist tarifdispositiv ausgestaltet. Zudem ist eine Ergänzung des Tarifvertrags der Mehrheitsgewerkschaft durch die Regelungen des Minderheitentarifvertrags anstelle einer Verdrängung möglich, wenn es dem Willen der Mehrheitstarifvertragspartei entspricht. Des Weiteren dürfen tarifvertraglich garantierte langfristige Leistungen, wie etwa Leistungen zur Alterssicherung, nicht verdrängt werden.

Nachbesserungen sind notwendig

Die mit der Verdrängungswirkung verbundenen Beeinträchtigungen sind aber insoweit unverhältnismäßig und nicht mit dem Grundgesetz vereinbar als Schutzvorkehrungen gegen eine einseitige Vernachlässigung der  Angehörigen einzelner Berufsgruppen durch die jeweilige Mehrheitsgewerkschaft fehlen. Auch die Nachzeichnung wird ihren Interessen nicht notwendigerweise zumutbar gerecht. Der Gesetzgeber muss daher Vorkehrungen treffen, dass bei der Verdrängung von Tarifverträgen nach § 4a TVG nicht die Interessen einzelner Berufsgruppen oder Branchen einseitig vernachlässigt werden. Das BVerfG hat dem Gesetzgeber daher aufgegeben, dies bis 31. Dezember 2018 im Gesetz zu regeln. Bis dahin sei die Kollisionsregel in § 4a TVG mit der Maßgabe anzuwenden, dass ein Tarifvertrag im Falle einer Kollision nur verdrängt werden darf, wenn plausibel dargelegt ist, dass die Mehrheitsgewerkschaft die Belange der Angehörigen der Minderheitsgewerkschaft »angemessen und wirksam« in ihrem Tarifvertrag berücksichtigt hat. Dies müssen im Einzelfall dann die Fachgerichte, also die Arbeitsgerichte entscheiden.

Das Urteil erging mit sechs von acht Richterstimmen – nur eine Richterin und ein Richter des Senats hatten sich gegen eine Verfassungskonformität ausgesprochen, weil nach ihrer Ansicht die Beeinträchtigungen zu groß seien. Hinter der Annahme der Senatsmehrheit, die Nachzeichnung eines Tarifvertrags einer anderen Gewerkschaft halte den Verlust des eigenen Tarifvertrags in Grenzen, steht eine gefährliche Tendenz, die Interessen aller Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als einheitlich aufzufassen. Die Vorstellung, es komme nicht auf den konkret ausgehandelten Vertrag an, solange überhaupt eine Tarifbindung bestehe, privilegiert in der Sache die großen Branchengewerkschaften. Dies widerspreche dem Grundgedanken des Art. 9 Abs. 3 GG, der auf das selbstbestimmte tarifpolitische Engagement von Angehörigen jedweden Berufes setzt.

Andreas Dittmann

Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht